Das Fragen in Gang halten

Rezension von Daniel-Pascal Zorn: Shooting Stars – Philosophie zwischen Pop und Akademie, Vittorio Klostermann: Frankfurt am Main 2019 (= Klostermann Essay 2)

Es gibt einen Film von Orson Welles, »Touch of Evil«, der aus vielerlei Gründen, die hier jetzt nichts zur Sache tun, qualititativ höher einzuschätzen ist als sein berühmtester Film »Citizen Kane«. Legendär geworden ist die Eingangssequenz, ein ungeschnittener Establishing Shot, der mit einem riesengroßen Kranausleger und extremer Zoomoptik zirka dreieinhalb Minuten lang als Plansequenz den Zuseherinnen und Zusehern ein alltägliches Ereignis vorführt – einen Grenzübertritt –, das bereits quasi den kompletten Film enthält, ohne dass man das zu diesen Zeitpunkt wissen kann. Genauso verhält es sich mit dem Titel des hier anzuzeigenden neuen Buches von Daniel-Pascal Zorn, Shooting Stars – Philosophie zwischen Pop und Akademie, das Anfang Juli bei Vittorio Klostermann in Frankfurt am Main erschienen ist.

Dieser Buchtitel ist sehr raffiniert gewählt, ebenso wie der erwähnte one take von Welles. Schwankt man bei »Shooting Stars« zunächst, welche der möglichen Hinsichten gemeint ist – grammatikalisch die subjektive oder die objektive –, so wird nach der Lektüre des knapp hundertseitigen Essays klar: beide gleichzeitig. Eine ähnliche Raffinesse bietet auch das »zwischen« des Untertitels, denn wie der Autor bereits in der Einleitung ankündigt, stellt er der Populärphilosophie und der akademischen Philosophie nicht nur etwas Drittes gegenüber, vielmehr stellt er es zwischen die beiden – in die Mitte: die Philosophie. Das bedeutet, wer die Titelei des Buches genau liest, ahnt, was ihn erwarten könnte: »Der vorliegende Text ist eine Kritik der Populärphilosophie«, lautet der erste Satz (7), und es wird im selben Absatz klar, dass hier zunächst der Genitivus objectivus verwendet wird.

Wer nun glaubt, das Buch liefere ein wohlfeiles Bashing der gefriergetrockneten Denkgebärden von Richard David Precht und Konsorten, wird enttäuscht sein. Sicher, einige der »neuen Philosophen« – der Autor beschränkt sich auf Deutschland – werden erwähnt und zitiert (13–18 z.B.), aber es geht ihm dezidiert nicht darum, sie sozusagen fertigzumachen. Das Auf-Sterne-›Schießen‹ ist hier als ›Zielen‹ zu verstehen, als Zielen auf das Verständnis von Philosophie, das einerseits die Vertreter der Popularphilosophie, andererseits die Vertreter der akademischen Philosophie haben. Während für Erstere die Erwartungshaltung des Publikums der Maßstab ist (vgl. 15), so agieren Zweitere aus dem Blickwinkel der ersteren gleichsam weltfremd – »unnötig«: Sie (die akademische Philosophie) halte »sich mit dem Unnötigen auf: mit unnötig komplizierten Formulierungen in unnötig langen Texten mit einer unnötig selbstbezüglichen Forschung« (24). So stehen die beiden einander gegenüber und schießen bzw. zielen aufeinander.

Zorn nennt das einen »unproduktiven Kreislauf« (8), und er hat recht. Denn das, worum es beiden Protagonisten geht, die Philosophie, scheint dabei auf der Strecke zu bleiben. Sie ist aber deren gemeinsamer Nenner (siehe auch hier weiter unten), und so entschließt sich der Autor, sie im Text zwischen diese beiden Hinsichten zu stellen. Das macht auch die Struktur dieses Essays aus, den Zorn nicht systematisch anlegt, sondern problemorientiert. Auch wenn der Text in 13 Abschnitte plus Einleitung gegliedert ist, so ist sein großer Duktus dreigeteilt: Erst eine Darstellung der Populärphilosophie, so wie sie sich zeigt und selbst versteht (13–28). Dann eine Darstellung der Philosophie – ›eine‹ Darstellung –, die zeigt, worin die Protagonisten von Akademie und Pop ihren Anspruch, die Philosophie darzustellen, verfehlen (29–90, das ist der Hauptteil des Buches). Zuletzt der Versuch, zwischen beiden Positionen zu vermitteln (91–99). Der Übergang vom zweiten zum dritten Teil des Essays ist besonders geglückt, denn Zorn führt mit einem kurzen Ausflug in die Geschichte der Philosophie vor, dass es Populärphilosophie immer schon gegeben hat (71–79), um dann in einem Abschnitt »Ist und Soll« (81–90) ein beispielhaft dilemmatisches Gespräch über die Popularisierung der Philosophie zu referieren, das in einem aktuellen Beitrag der Philosophin Elke Brendel möglicherweise aus seinem Dilemma geführt wurde.*)

»Die Lehre der Philosophie«

Der Kern der Überlegungen Zorns steht im zentralen Abschnitt des Buchs, »Die Lehre der Philosophie« (43–51). Auch hier ist beides gemeint, einerseits lehrt uns die Philosophie etwas, andererseits geht es um das Philosophie-Lehren. Diesen Gedanken bereitet Zorn in den Abschnitten davor folgendermaßen vor.

Auf der Basis von Selbstauskünften der Populärphilosophie resümiert er pointiert: »Wie Hofnarren, die den König beleidigen und beschimpfen dürfen, solange sie ihn unterhalten, dürfen auch die Populärphilosophen das Publikum herausfordern, solange sie es nicht überfordern. Sie besetzen eine Nische, die durch die Nachfrage der durchschnittlichen Sinnsuche des Nichtphilosophen eröffnet wird. [//] Diese Sinnsuche gilt es zu bedienen. Angebot und Nachfrage bestimmen das philosophische Geschäft und damit auch die Gedanken, die man in ihm formuliert.« (28) Das heißt, dass nichtphilosophische Bestimmungen für die Populärphilosophie bestimmend werden (vgl. ebd.) – und das ist der Kern des Konflikts zwischen der »Akademie«, wie Zorn das immer wieder nennt, und dem »Pop«: Während die einen die Tradition pflegen, geht es den anderen ums Verbreiten von dem, was sie meinen, dass Philosophie sei (vgl. 29). Das allerdings, so Zorn, werde dem radikalen Anspruch der Philosophie nicht gerecht: »Philosophie geht den Dingen auf den Grund. Sie kann das aber nur, wenn da nicht schon ein Grund ist, den sie dort selbst versteckt hat. Sonst findet sie nur das wieder, von dem sie bereits vorher wusste, dass es da ist.« (ebd., der Abschnitt heißt »Das Dilemma der Radikalität«) Das heißt, es geht darum, Voraussetzungen zu beachten, und damit das kein circulus vitiosus wird, müssen sie geprüft werden.

Mit dem Auf-den-Grund-Gehen ist das berühmte »krínein« des Altgriechischen gemeint: »unterscheiden«, »Voraussetzungen prüfen«, mithin eine »Form der prüfenden und untersuchenden Aufmerksamkeit« (30) zu praktizieren. »Kritik« kommt von krínein, und spätestens hier sollte klar sein, wie der Autor dieses Wort im Eröffnungssatz seines Essays verwendet. »Kritik« ist modern ja zu einem rein negativen Begriff verkommen, und so versteht und verwendet ihn der Autor hier (und auch an vielen anderen Stellen seiner bislang vorgelegten Publikationen) nicht. Die recht verstandene Kritik ist immer grundsätzlich, geht an die Wurzel, die radix, und ist deswegen radikal. Wie vermittelt man das nun jemandem, der oder die nicht Philosophie studiert hat, sich aber dafür interessiert? Das Versprechen der Pupulärphilosophie, das zu leisten, indem man ohne große Anstrengung radikal fragt (vgl. 33), funktioniert deswegen nicht, weil es die Dilemma-Struktur solchen Fragens verkennt oder unterschlägt. Zorn formuliert das so: »Wie soll man jemandem das, was er nicht gelernt hat, beibringen, wenn das, was ihm fehlt, die Bedingung dafür ist, dass er es lernen kann?« (ebd.) – und er bezeichnet es als philosophisches Grundproblem. Es gehört zum Leben (auch eines Philosophen) dazu, gewisse Voraussetzungen einfach hinzunehmen und nicht alles permanent zu befragen. ›Hinterfragen‹ sagt man manchmal dazu, dieses Unwort, das dem Vokabular des investigativen Journalismus entstammt, ist in der deutschsprachigen Populärphilosophie gang und gäbe und bedauerlicherweise in den alltagssprachlichen Wortschatz übergegangen.

Hier gibt es eine Hürde zwischen den Nichtphilosophen und Philosophen, denn »die Voraussetzungen, die wir machen, [bestimmen] nicht nur das […], worüber wir reden, sondern auch […] wie wir darüber reden« (35). Dass dieses Grundproblem mit Beibringen und Lernen zu tun hat – mit be-fragen, mit er-fragen –, hängt damit zusammen, dass man sich ja von der Lektüre populärphilosophischer Texte einen Erkenntnisgewinn erwartet, und die Produzenten solcher Texte versuchen, dem zu entsprechen. Zorn schlägt zur Überwindung dieser Hürde nun dies vor: Wenn man – so wie er – nicht will, eine Weltanschauung durch eine andere zu ersetzen, dann müsse man »sein Gegenüber also das Wie lehren, ohne dass es ihm so erscheint, als sei diese Lehre eine, die es von vornherein besser weiß. Nur so durchbricht man den Kreislauf des Selbstverständlichen, das sich ständig anderes Selbstverständliches sucht, um sich darin zu bestätigen.« (35f.)

Das sokratische Gespräch

In dieser Hinsicht empfiehlt es sich, so Daniel-Pascal Zorn, auf ein in der Philosophie erfolgreiches, effizientes und einflussreiches Konzept zurückzugreifen: auf die Gesprächs- und Argumentationspraxis des Sokrates, so wie sie Platon in seinen Dialogen entfaltet. Die verschiedenen philosophischen Probleme werden dort nicht mittels eines dogmatischen Setzens von etwa Wahr-falsch-Aussagen diskutiert, sondern sie zeigen sich im Wie des Gesprächs: »Sie ergeben sich einzig aus dem, was seine [= Sokrates’; MR] Gesprächspartner antworten. Ihr eigener Logos, ihre eigene Redehandlung, sagt gegen ihren Anspruch auf Wissen aus.« (46) Zorn ergänzt das gleich auf der nächsten Seite: »An diesem Punkt, an dem der fragende Lehrer Sokrates dem das eigene Wissen in Frage stellenden Gesprächspartner gegenübersteht, ist allererst ein Gespräch möglich [HV v. MR]. Nur wenn beide Gesprächpartner offen sind für die Infragestellung dessen, was sie zunächst für selbstverständlich gehalten haben, kann eine philosophische Diskussion beginnen. Sokrates lehrt, in Platons Dialogen, also nicht Philosophie. Sondern er stellt überhaupt erst die Bedingung her, unter der sie möglich ist.« (47)

Diese beiden Zitate sind die Mitte von Zorns Buch, sie sind das Zentrum seiner Argumentation. Ähnliches ist auch in seiner ebenfalls bei Klostermann erschienenen »Einführung in die Philosophie« zu lesen, im zentralen Kapitel über das philosophische Gespräch. Das Infragestellen gilt gleichermaßen für beide Gesprächspartner, man könnte sagen, die offen ausgetragene Jemeinigkeit des vermeinten Selbstverständlichen, das man in seinem Sein und Seinkönnen einander zeigen will, ist erst das, was ein Gespräch überhaupt erst ermöglicht. Miteinander-sprechen als Lernen, als gemeinsames Erlangen von Wissen – das ist Arbeit, in Zorns Essay klingt das immer wieder an. Die trügerische Offenheit der vermeintlich allgemeinverständlichen Sprache, derer sich die Populärphilosophie durchaus erfolgreich befleißigt, ist im Grunde Wissens- und Gesprächssimulation. Und die akademische Philosophie scheint in weiten Teilen nicht dazu imstande oder willens zu sein, ihr immenses Wissen angemessen zu kommunizieren. Und doch haben beide etwas gemeinsam: Sie beanspruchen die »Philosophie« für sich. Sie ist sozusagen das Tertium, an dem sie einander messen.

»Die Philosophie«

Bereits in der Einleitung (10) verschiebt Daniel-Pascal Zorn dezent den Akzent und schreibt »die Philosophie« – mit Anführungszeichen, und der bestimmte (!) Artikel ›die‹ gehört dazu. Das ist eine klug gewählte Hinsicht, denn sie erlaubt dem Autor, der diesen Essay ja auf Ausgleich und nicht auf Konfrontation angelegt hat (wenngleich Ersteres ohne Zweiteres nicht zu haben ist), herauszustreichen, dass ›die Philosophie‹ eine Haltung ist (10, im Text kursiv), »[…] eine Praxis, und ein aus dieser Haltung entstehendes Problem ihrer Weitergabe […]« (ebd.). »Haltung« ist hier nicht als moralisch-moralisierender Begriff zu verstehen (das wäre freilich ein grobes Missverständnis), sondern als ein Sich-verhalten-zu, als »eine Bereitschaft, die Philosophie als Frage zu akzeptieren, ohne dabei schon die Wissenschaft oder das Publikum als selbstverständlichen Horizont vorauszusetzen« (10f.). Dieses mit ›die Philosophie‹ bezeichnete Sich-verhalten-zu ist selbst ein philosophisches Problem (vgl. 11). Es kommt darauf an, es zu sehen. Da Platon es gesehen hat, bezieht sich Zorn auch immer wieder auf ihn – übrigens auch mit einer ebenso kurzen wie originellen Höhlengleichnis-Auslegung (62–66) –, es geht dabei zuvörderst nicht um die ›Inhalte‹ (um die freilich auch), sondern um die Art und Weise ihrer Abhandlung, um das Gespräch; eben wie man sich zu den ›Inhalten‹ verhält. Das Frage-Antwort-›Spiel‹ des platonischen Sokrates zeigt genau das: Das Fragen in Gang zu halten ist »die Philosophie« – in jenem Sinn, den Zorn in seinem Buch ausarbeitet.

Dieser fundierte und in sehr schönem Deutsch geschriebene Essay Daniel-Pascal Zorns wird den hohen Ansprüchen, die der Autor an sich selbst und an seine Zunft stellt, mehr als nur gerecht. Er führt sozusagen in actu vor, dass und wie man ein schwieriges philosophisches Problem auf populäre und nirgends vereinfachende Weise darstellen kann. Und umgekehrt: Der entspannte und souveräne Duktus des Texts, der nirgends ins Hermetische abdriftet, gibt gerade deswegen einen zugleich sprachlich anspruchsvollen und gut verständlichen Stil vor, den zu pflegen der akademischen Philosophie gut zu Gesicht stünde. Zorns »Shooting Stars« ist ein dringend notwendiges, ein wichtiges Buch. Alle sollten es lesen.

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*) Die Protagonisten sind neben Elke Brendel Wolfram Eilenberger, Thomas Grundmann und Wolfgang Spohn (Links als aktiv verifiziert am 25. Juli 2019).

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